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Sonderbericht

Taiwan Strich für Strich: Eine Liebeserklärung an die sich wandelnden Schreibtraditionen

Taiwan ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart einander begegnen und nirgends zeigt sich das deutlicher als in seinen einzigartigen Schriftsystemen. Wie ein Liebesbrief Gefühle durch Worte zum Ausdruck bringt, spiegeln Taiwans Schriftzeichen das kulturelle Erbe des Landes mit jedem einzelnen Strich wider. Und so wie das Zeichen „書, shū“ sowohl ein persönlicher Brief als auch ein Buch oder Dokument bedeuten kann, so vereinen Taiwans Schrifttraditionen persönliche Ausdruckskraft mit historischer Tiefe. Sie laden Mandarin-Lernende aus aller Welt ein, eine Sprache zu entdecken, die von Kunstfertigkeit und Tradition geprägt ist.

Während die meisten Mandarin-Lernenden weltweit das Pīnyīn-System verwenden, bewahrt Taiwan zwei eigenständige sprachliche Traditionen: erstens Zhùyīn (注音, auch bekannt als „Bopomofo“), ein phonetisches System zum Lernen und Tippen und zweitens die traditionellen Schriftzeichen (正體字, zhèng tǐ zì), die klassische Form des geschriebenen Mandarin. Diese Schriftsysteme sind weit mehr als bloße Werkzeuge zur Verständigung – sie sind kulturelle Symbole, die Taiwans Identität, Geschichte und Kreativität widerspiegeln. Egal ob Sie sprachbegeistert sind, Typografie lieben oder Mandarin lernen und deshalb eine tiefere Verbindung zu Taiwan suchen, die Auseinandersetzung mit diesen Schriftsystemen eröffnet einen Blick auf einen Aspekt der Insel, der oft übersehen wird.

Zhùyīn: Taiwans einzigartiges Phonetiksystem

Wenn Sie schon einmal Mandarin gelernt haben, kennen Sie wahrscheinlich Pīnyīn, ein romanisiertes Lautschrift-System, das in den meisten mandarinsprachigen Gemeinschaften der Welt verwendet wird. In Taiwan jedoch lernen Kinder zunächst das Lesen und die Aussprache von Schriftzeichen mit Zhùyīn – einem phonetischen System, das aus 37 Zeichen und fünf Tonzeichen besteht. Im Gegensatz zu Pīnyīn, das dem lateinischen Alphabet entlehnt wurde, ist Zhùyīn ein eigenständiges Schriftsystem und damit eine einzigartige taiwanesische Methode, um Mandarin zu lernen.

Anders als Pīnyīn ist Zhùyīn eine völlig eigenständige Schrift, die nicht dem lateinischen Alphabet entlehnt wurde.

Zhùyīn wurde Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt und ist bis heute ein fester Bestandteil in Taiwan. Es wird in Kinderbüchern und Sprachlernmaterialien sowie auf Tastaturen von Smartphones und Computern zur Eingabe chinesischer Schriftzeichen verwendet. Viele Mandarin-Lehrkräfte in Taiwan sind überzeugt, dass das Lernen mit Zhùyīn die Aussprache verbessert, da es Störungen vermeidet, die beim Lesen romanisierter Umschriften entstehen können. Wenn Sie Taiwans authentischen Zugang zu Mandarin erleben möchten, finden Sie mit Zhùyīn einen idealen Einstieg.

Zhùyīn Wén (注音文): Eine verspielte Online-Weiterentwicklung von Zhùyīn

Über seine traditionelle Rolle im Bildungsbereich hinaus hat sich Zhùyīn in Taiwan zu einer kreativen und informellen Schreibweise unter jüngeren Generationen entwickelt und ist bekannt als Zhùyīn Wén(注音文, wörtlich „Zhùyīn-Text“).  Dieser Stil kombiniert Zhùyīn-Zeichen mit traditionellen Schriftzeichen und schafft ein hybrides Schriftsystem, das häufig in Chatrooms, Memes und im digitalen Slang verwendet wird.

So kann man beispielsweise statt des vollständigen Satzes für „Ich weiß nicht“(不知道)das Zeichen 不 durch seinen Anlaut ㄅ (IPA: [p]) ersetzen und „ㄅ知道“ schreiben. Das macht das Tippen schneller, verspielter und visuell auffälliger und kann manchmal Tonfall oder Emotionen betonen. Zhùyīn wird von manchen Menschen auch aus ästhetischen oder humorvollen Gründen verwendet, ähnlich wie im Deutschen Abkürzungen, Emojis oder stilisierte Schreibweisen in der informellen Kommunikation eingesetzt werden.

Obwohl sich Zhùyīn Wén vor 10 bis 20 Jahren erstmals großer Beliebtheit erfreut hat, erlebt es heute eine Renaissance mit noch kreativeren Varianten. Da Zhùyīn ausschließlich in Taiwan verwendet wird, kann Zhùyīn Wén für nicht-taiwanesische Mandarin-Sprecher  verwirrend oder sogar unlesbar sein. Diese Eigenschaft der begrenzten Lesbarkeit wurde von vielen taiwanesischen Internetnutzerinnen und -nutzern erkannt: Zhùyīn Wén dient inzwischen auch als eine Art „Code“, um öffentliche Kommentare zu verschlüsseln, sodass nur Menschen mit Zhùyīn-Kenntnissen die Nachricht vollständig verstehen können. Diese besondere Schriftform hat sogar eine taiwanesische Kalligrafin dazu inspiriert, eine Open-Source-Schriftart im Stil von Zhùyīn Wén zu gestalten, die interessierte Nutzerinnen und Nutzer herunterladen können.

Im obigen Bild ist eine Schriftart zu sehen, die traditionelle Schriftzeichen in kalligrafisches Zhùyīn Wén  verschlüsselt. Der obere Satz lautet „Elffont“, der untere „kostenloser Download“.(copyright reserved by justfont.)

Traditionelle Schriftzeichen: Kunst und Geschichte Strich für Strich

Während große Teile der mandarinsprachigen Welt vereinfachte Schriftzeichen übernommen haben, bleibt Taiwan eine der letzten Hochburgen traditioneller Schriftzeichen. Diese komplexen, von Geschichte durchdrungenen Zeichen sind mehr als nur Wörter – sie sind eine Kunstform. In jedem Strich ist die vollständige etymologische Geschichte bewahrt, was den traditionellen Schriftzeichen eine visuelle Komplexität, aber auch eine tiefe Bedeutung verleiht.

So enthält beispielsweise das traditionelle Schriftzeichen für „Liebe“ (愛) das Radikal 心 (Herz) in der Mitte, während die vereinfachte Version (爱) dieses Element weglässt. Viele Taiwaner sehen darin eine Metapher für die Tiefe und Emotion, die in ihrem Schriftsystem verankert ist, und betrachten die traditionellen Schriftzeichen als eine Quelle kulturellen Stolzes.

Für Mandarin-Lernende, die sich für Geschichte und Kultur interessieren, ist Taiwan der beste Ort, um die klassische Form des geschriebenen Mandarin zu erleben. Im Folgenden werden drei zeitgenössische Bereiche vorgestellt, in denen dieses kulturelle Erbe weiterhin lebendig ist:

1. Calligraphy (書法, Shūfǎ)

Tong Yang-tze, eine der bedeutendsten Kalligrafinnen Taiwans, stellt ihre Werke im Metropolitan Museum of Art in New York aus. Das riesige Werk auf dem obigen Bild zeigt verschiedene Schriftstile des traditionellen Zeichens „無“ (Nichts, Leere).

Kalligrafie gehört zu den angesehensten Kunstformen in kulturellen Traditionen und wird in Taiwan nach wie vor hoch geschätzt. Viele Menschen besuchen Kalligrafiekurse und es ist nicht ungewöhnlich, in Tempeln, Kulturstätten oder auf Festen Kalligrafievorführungen zu sehen. Manche ältere Taiwaner üben sich sogar täglich in der Pinselkalligrafie als meditative Disziplin.

Über die traditionelle Kalligrafie hinaus lassen sich taiwanesische Künstler häufig von diesem alten Kunsthandwerk inspirieren. So hat zum Beispiel die weltbekannte taiwanische Tanzgruppe Cloud Gate die Cursive-Trilogie choreografiert – eine Hommage an verschiedene kalligrafische Schreibstile, in der sich Bewegung und Tusche zu einer atemberaubenden Kunstform verbinden.

Im ikonischen Tanzstück Cursive von Cloud Gate verkörpern die Tänzer die fliegenden Pinselstriche der kalligrafischen Grasschrift.

Für Mandarin-Lernende bieten Kalligrafieworkshops eine praktische Möglichkeit, die künstlerische Tiefe traditioneller Schriftzeichen zu erleben. Wenn Sie es selbst ausprobieren möchten, bieten viele Mandarin-Lernzentren Einführungsworkshops an, die auch für Anfänger gut geeignet sind.

2. Digitale Schriftarten und Typografie

Im digitalen Zeitalter wurden traditionelle Schriftzeichen sorgfältig in digitale Schriftarten umgeformt und prägen heute maßgeblich das Grafikdesign und Marketing in Taiwan. Aufgrund ihrer komplexen Struktur erfordert das Gestalten traditioneller Schriftzeichen weit mehr Aufwand als bei lateinbasierten Schriften, was die Entwicklung von Schriftarten für taiwanische Font Foundries (Schriftenhersteller) sowohl kostspielig als auch zeitintensiv macht.

Eine einzelne digitale Schriftart für Mandarin benötigt mindestens 13.000 Zeichen, um im Alltag verwendbar zu sein. Da Schriftgestalter nur 2 bis 4 Zeichen pro Tag entwerfen können, dauert es mindestens 2 bis 3 Jahre, um einen vollständigen Schriftsatz fertigzustellen.

Die Taiwan Road Font ist eine digitale Schriftart, die von den schablonenartigen Verkehrsschildern inspiriert ist, die auf den Straßen Taiwans aufgemalt sind. (copyright reserved by justfont.)

Trotz dieser Herausforderungen ist Taiwan nach wie vor Heimat innovativer Font Foundries, die kulturell inspirierte Schriftarten entwerfen. So entwickelte justfont beispielsweise die „Taiwan Road Font“, die von den schablonenartigen Verkehrsschildern auf Taiwans Straßen inspiriert ist. Die schlanke Silhouette der Schrift imitiert Straßenmarkierungen und macht sie sofort erkennbar – ein Favorit unter taiwanischen Designerinnen und Designern.

3. Ri Xing Schriftgießerei (日星鑄字行, Rìxīng Zhùzìháng)

Die Ri Xing Schriftgießerei besitzt zig Millionen Schriftsatzblöcke.

Für Geschichtsbegeisterte, die in Taiwan etwas Einzigartiges erleben möchten, ist ein Besuch der Ri Xing Schriftgießerei ein absolutes Muss. Gelegen im Herzen Taipehs, ist sie die letzte noch existierende Druckerei in Taiwan, die mit beweglichen Mandarin-Lettern arbeitet. Die Gießerei hat die traditionelle Technik des Druckens mit metallenen Schrifttypen bewahrt – ein Handwerk, das im digitalen Zeitalter beinahe verschwunden ist.

Besucherinnen und Besucher können Tausende handgravierte traditionelle Schriftsatzblöcke entdecken, mehr über die Geschichte des Buchdrucks erfahren und sogar eigene Drucke mit der Buchdruckpresse herstellen. Dieses Reiseziel ist ideal für Geschichtsliebhaberinnen und -liebhaber, Typografie-Fans und alle, die feines Handwerk zu schätzen wissen.

Buchdrucke mit beweglichen Lettern wurden durch winzige Schriftsatzblöcke (vorne) und traditionelle Setzmaschinen (hinten) ermöglicht.

Taiwans Schriftsysteme sind mehr als bloße Werkzeuge der Kommunikation – sie sind lebendige Vermächtnisse von Kultur, Geschichte und künstlerischem Ausdruck. Vom phonetischen Reiz des Zhùyīn bis hin zur kunstvollen Schönheit traditioneller Schriftzeichen  – diese Schriften erzählen Taiwans Geschichte auf eine Weise, die über Wörter hinausgeht.

Wenn Sie in die Sprache Mandarin eintauchen und Ihre Verbindung zu Taiwan vertiefen möchten, gibt es keinen besseren Weg, als die lebendige sprachliche Tradition des Landes zu sehen, zu schreiben und zu erleben. Ob beim Erlernen der Kalligrafie, beim Entziffern verspielter Zhùyīn-Texte oder beim Besuch einer historischen Schriftgießerei – Taiwan bietet unzählige Möglichkeiten, sich mit seinem reichen kulturellen und sprachlichen Erbe zu befassen.

Mandarin-Glossar in diesem Artikel:

  • 注音(Zhùyīn)
  • 正體字(zhèng tǐ zì)
  • 書法(shūfǎ)

Bibliography:

  • 《學華語向前走課本-入門A-注音符號版》p.91https://www.huayuworld.org/upload/epaper/106/BS-PN-ch1-ch6.pdf
  • 注音文精靈文字體:https://blog.justfont.com/2024/10/elffont/
  • 注音符號的歷史(臺北市立圖書館):https://webref.tpml.edu.tw/sp.asp?xdurl=superXD/question_adult_01_d.asp&id=13661&mp=10
  • 董陽孜紐約大都會藝術博物館首展(僑務電子報):https://www.ocac.gov.tw/OCAC/Pages/Detail.aspx?nodeid=345&pid=70402798
  • justfont 分享造字耗時:https://www.instagram.com/bailee_story/p/CKG23i3Hdi-/?img_index=4
  • 臺灣道路體:https://blog.justfont.com/2022/04/evolution-of-road-font/

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